China nach dem Sturm: Alles auf Anfang?

Lutz Berners berichtet aus China nach dem Lockdown

China nach dem Sturm: Alles auf Anfang?

Ping! „Der Captain hat das Anschnallzeichen eingeschaltet. Beim Landeanflug auf Guangzhou erwarten wir Turbulenzen. Der Taifun ist zwar schon abgeschwächt, aber es könnte trotzdem ruckelig werden.“

Was für eine Symbolik: die Landung nach dem Sturm. Nach drei Jahren bin ich zum ersten Mal wieder in China. Drei Jahre, in denen sich die Welt komplett verändert hat. Pandemie, russischer Angriffskrieg, Zeitenwende, … Begriffe, die den Alltag auf allen Ebenen prägen. So auch bei meiner beruflichen Hauptbeschäftigung: Menschen und Unternehmen zusammenbringen, Chancen erarbeiten, Probleme lösen.

Der Flug war angenehm unspektakulär. Vom Einchecken in Zürich über das Umsteigen in Istanbul bis hin zur Ankunft am Flughafen Guangzhou spürte man kaum einen Unterschied zu 2019. Zwar gab es die eine oder andere zusätzliche Formalie – das immer noch benötigte Health Declaration ist auf dem Smartphone innerhalb von 5 Minuten erledigt – aber eigentlich war alles wie früher.

Frappierend war der Eindruck am Flughafen Istanbul. Dort trifft sich endlich wieder die Welt, und zwar nicht die eurozentrische wie in Frankfurt oder Paris, sondern ihr größerer Teil. Keine andere Fluggesellschaft fliegt so viele Ziele an wie Turkish Airlines. Auf der Anzeigetafel werden Ziele angezeigt, von denen ich – weit gereist! – noch nie gehört habe. Durch das Terminal wogt eine – im wahrsten Sinne des Wortes – bunte Mischung aus großen Gruppen weißgewandeter muslimischer Gläubiger, die aus aller Welt über Istanbul nach Mekka pilgern, anzugtragenden Geschäftsreisenden und wohlhabenden Asiaten mit selbstverständlich lässig dargestellter westlicher Luxusstaffur. Das Eintauchen in diese – sehr reale – Welt erdet.

Guangzhou, meine zweite Heimat, hat sich seit meinem letzten Besuch vor drei Jahren sichtbar verändert. Bunte LED-Beleuchtungen prägen das Stadtbild noch stärker als zuvor. Im Straßenverkehr gibt es noch mehr Elektrofahrzeuge. Sind diese Entwicklungen der letzten drei Jahre größer als in früheren drei-Jahres-Zeiträumen? Schwer zu sagen. Tendenziell würde ich sagen, die Entwicklungen passen ins Bild der vergangenen Jahrzehnte.

Die großen Veränderungen sind nicht so stark sichtbar. Man spürt sie, wenn man mit Unternehmen zu tun hat. Es ist mehr Distanz als früher. Das hat mehrere Gründe.

Der größte Punkt ist sicherlich die Erschwerung der Kooperation während der letzten Jahre. Die Lockdowns in Europa und China führten zu unvorhersehbaren Konsequenzen. Während der heißen Phase der Jahre 2020 und 2021 waren alle verunsichert. Würden die europäischen Kunden weiterhin bestellen? Sind plötzliche Großbestellungen echt, oder sind sie nur prophylaktisch redundant bei mehreren Lieferanten platziert? Können die Lieferanten liefern? Gibt es genug Container? Geschäftsreisen und Messen sind über Jahre ausgefallen, neue Ansprechpartner sind zuständig … Kurzum: Die Beziehungen haben einen großen Rückschritt gemacht. Die Grundlagen sind weiterhin vorhanden, aber man muss sich erst mal wieder finden.

Auch die geopolitische Abkühlung strahlt auf die Geschäftsbeziehungen aus. Gesetzliche Anforderungen der EU oder der USA, wie das deutsche Lieferkettengesetz oder der amerikanische Uyghur Forced Labor Prevention Act, sind erklärungsbedürftig und belasten die Beziehungen. Insbesondere erschweren sie den Aufbau neuer Lieferbeziehungen, denn neue Lieferanten ohne bestehende Beziehung können die Anforderungen der neuen deutschen Kunden nicht einordnen. Das ist bei gewachsenen Beziehungen besser machbar. Und immer schwingt die Sorge mit, dass es auf globaler Ebene zu einer größeren Verwerfung kommen könnte, wegen Taiwan zum Beispiel oder wegen des russischen Angriffskriegs.

In China selbst gibt es auch Verunsicherung. „Jahrelang beherrschte uns das Virus. Dann hieß es von einem Tag auf den anderen: vorbei. Wie, vorbei? Einfach so? Ohne weiteren Kommentar?“ So fasst es meine Schwiegermutter in Guangzhou zusammen. Kommt da noch mal was? Lieber jetzt reisen, lieber jetzt alles machen, was man machen möchte.

Die Verunsicherung schlägt sich auch auf die Wirtschaft nieder. Arbeitnehmer sind konservativer geworden, große und stabile Arbeitgeber stehen hoch im Kurs. Der Optimismus – jeder ist seines Glückes Schmied – ist abgeschwächt. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch. Zwar spürt man wieder die pulsierende Energie der Metropolen, doch man weiß nicht so recht, ob es wieder nachhaltig so wird wie vorher. Das Grundvertrauen, dass alles gut werden wird, ist etwas abhanden gekommen.

 

Und jetzt?

Jetzt heißt es: Ärmel hoch und zupacken. In die Offensive gehen und aktiv gestalten – jeder in seinem jeweiligen Bereich. Für mich und meine MitstreiterInnen bedeutet das, die Lieferbeziehungen zwischen unseren deutschen Kunden und ihren chinesischen Lieferanten zu stärken. Wir brauchen chinesische Produkte, und die chinesischen Lieferanten brauchen unseren Markt. Genauso bei Unternehmenskooperationen in China, wie z.B. Joint Ventures im Automobilzuliefererbereich: Wir brauchen den chinesischen Absatzmarkt, um global bestehen zu können. Wir dürfen das Feld nicht einfach anderen überlassen. Das gleiche gilt für strategische Bereiche wie kritische Rohstoffe, bei denen es eine eigene Position aufzubauen gilt, und bei denen wir unterstützen.

Bei all diesen Kooperationen bauen beide Seiten auf ihren jeweiligen Rahmenbedingungen auf – wir auf unseren Werten und den europäischen Gesetzen, und die Chinesen auf ihren Werten und den chinesischen Gesetzen. Anders als in der Vergangenheit begegnen sich deutsche und chinesische Partner eher auf Augenhöhe. Das ist sicherlich nachhaltiger und „besser“ als in der Vergangenheit, wo es sehr asymmetrisch war und Deutsche „brachten“ während Chinesen „lernten“. Doch es ist auch sehr viel anspruchsvoller, mit ebenbürtigen Partnern zu verhandeln als in einem steilen Machtgefälle, in dem man ziemlich weit oben steht.

Das ist ein langer Weg, den es gemeinsam zu beschreiten gilt, und für den es keinen vorgefertigten Plan gibt. Die Parameter verändern sich ständig. Doch auch der längste und ungewisseste Weg beginnt mit dem ersten Schritt.

 

Zum Autor Lutz Berners:

Als Internationalisierungsexperte hat Lutz Berners seit Gründung der Berners Consulting GmbH im Jahr 2009 über 100 Internationalisierungsprojekte für mittelständische und große Unternehmen im In- und Ausland begleitet. Sein Team betreut fortlaufend Lieferketten für mehrere mittelständische Unternehmen, einige davon seit über einem Jahrzehnt.

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